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Geschriebenes
Leeres Erwachen?
Wenn du im Tiefschlaf bist, so scheint da absolut nichts zu sein – Leere. Doch diese Leere ist nicht einfach nur nichts. Man müsste es vielmehr so betrachten (wobei alle Worte nur Hindeutungen sein können und niemals die höchste Wahrheit selbst!), dass ein „leeres Bild“ vorhanden ist. Einen Betrachter des Bildes findet man mit Vorstellungen oder Denken nicht. Er ist völlig jenseits aller möglichen Vorstellungen, subtiler als der Raum.
Man kann durch Übung (z. B. Meditation, tiefes Brüten über Worte eines Meisters) an einen Punkt kommen, an dem die Welt vor einem verschwindet (auch wenn die Augen sie noch sehen), obwohl man noch irgendwie bewusst und nicht eingeschlafen ist. Auch hier „erlebt“ man einen Zustand der Leere.
Wenn nun zu dem bewussten „Erblicken“ der Leere noch die Erkenntnis hinzukommt, dass es gar keine Personen gibt, wird diese Leere oft als ultimatives Erwachen empfunden und der Glaube macht sich breit, dass da nichts und niemand wäre und noch nie gewesen ist. Dass alles einfach nur in DEM abläuft usw. Bücher über Bücher werden hierüber geschrieben, die voll und ganz überzeugen sollen, dass das das wahre „Wissen“ oder die wahre „Erkenntnis“ wäre.
Wahre Meister der Vergangenheit sagten hierzu mehr oder weniger das, was Cankara schon im 9. Jh. klargemacht hat: „Wo immer du stehst und gehst, du bist immer ER!“ (Mit ER ist „die höchste Realität“ gemeint). Nie haben sie behauptet, da wäre nichts oder niemand. Ganz im Gegenteil. Denn die Welt, die du (wer immer du wirklich bist) erlebst, ist voll und ganz deine Projektion, oder, um es mit noch einfacheren Worten deutlich zu machen, nur dein Gedanke. „Heiße Luft“, die du für wahr hältst. Sie unterscheidet sich vom Prinzip nicht sehr von einem nächtlichen Traum.
„Erwachen in die Realität“ zielte schon immer darauf ab, dich zu erkennen, deine wahre Natur zu verwirklichen. Wenn es niemand gäbe, dann wäre das gar nicht möglich. So mancher glaubt das jedoch und meint, dass man in die Realität erwacht wäre, wenn man erkennt, dass es niemanden und nichts gibt – außer der Leere. Doch die vermeintliche Leere (wie im Tiefschlaf) und die Welt(-en) wechseln sich in Folge ab. Beide werden gewissermaßen nur abwechselnd „wahrgenommen“.
Auch im Taoismus des 6. Jh. finden wir beispielsweise direkte Hinweise, dass „Nichts“ und „Leere“ nicht die Wahrheit sind:
„Nichts, Nichtvorhandensein [NOTHINGNESS]: …Obgleich sie davon sprechen, Nichtvorhandensein erreicht zu haben,
ist das nicht der wirkliche Weg …
Leerheit [EMPTINESS]: … Sie sprechen vergeblich von leerer Leerheit, und Leerheit ist nicht entleert, und so
wird sie zu einer nihilistischen (alles verneinenden) Leerheit. Schließlich sind sie sich der Unabhängigkeit
des ursprünglichen wahren Zustands [suchness] nicht bewusst.
Der große Weg [THE GREAT WAY]: Der große Weg ist schwer in Worte zu fassen. … Wenn du den Punkt erreichst,
an dem es weder Anfangslosigkeit, noch die Nichtexistenz der Anfangslosigkeit gibt, das ist das Ursprüngliche. …“
[Thomas Cleary – aus „The Taoistic classics“ Volume III]
Deine wahre Natur ist (in Worten ausgedrückt) jenseits dieser Leere, und sie ist immer – auf ewig. Die Leere ist „nichts“ und die Welt ist „nichts“. Die Formen, die du siehst und die vermeintliche Welt ausmachen, bauen auf der Leere auf und sind nicht wahr. Doch du, der das alles „wahrnimmt“ (allerdings trifft kein Wort den wahren Zustand genau, als Höchstes nimmst du noch nicht einmal wahr), bist wahr. Du bist in deiner wahren Natur nicht einfach nur nichts. Das gilt es zu verwirklichen, zu erkennen usw. Wenn man immer nur mit dem denkenden Verstand oder mit der Vorstellung einer Leere daran geht, kommt man nur bis zu dieser Leere, denn darüber hinaus kann der Verstand nicht gehen. Man muss ohne Verstand erkennen, doch scheint kaum jemand den Verstand hinter sich lassen zu wollen oder zu können. Hierzu müsste man sehr tief (vielleicht zu tief!) in die Worte eines wirklich Weisen eintauchen.
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© Hermann R. Lehner • nisarga.de