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Geschriebenes
Verstandesver(w)irrungen
Das „Erwachen in die höchste Realität“ erscheint als ein außerst schwieriges Unterfangen, das schon so manchen zeitweise in die Verzweiflung getrieben hat. Ein wirklich akzeptabler und sichtbarer Erfolg scheint über Jahre, wenn nicht gar über Jahrzehnte auszubleiben. Doch wo liegt hier eigentlich das Problem, wenn doch z. B. Sri Ranjit Maharaj sagt, dass das Erkennen von sich (S)elbst das Einfachste der Welt sein soll, schließlich bist du das, was du suchst, ja schon?
Die höchste Realität hat verschiedene Namen. Beispielsweise wird sie im indischen „Parabrahman“ genannt, im Taoismus das „Tao“. Doch Laotze sagt hier in seinem ersten Aphorismus, dass das Tao, das man benennen (und damit sich vorstellen oder sich zurechtdenken) kann, nicht das wahre Tao ist. Das zeigt uns, dass, was immer wir darüber denken oder uns vorstellen können, falsch sein muss. Wenn man etwas Falschem hinterherjagt, wird man das wahre Ziel wohl kaum erreichen können.
Der Verstand wiederum (das Denken, das Vorstellen) ist seinem Wesen entsprechend nicht in der Lage, mit etwas. das er sich nicht vorstellen kann, umzugehen. Er will und muss Wissen ansammeln. Wissen muss in Worte gefasst werden können, Worte erzeugen Vorstellungen – und so ist der (erst einmal) falsche Weg und die Verzweiflung vorprogrammiert.
Um in die „höchste Realität“ erwachen zu können (wobei auch hier bereits alle Worte schon nicht mehr ganz richtig sein können), muss das angesammelte Wissen letztlich in die Realität absorbiert werden, d. h. es muss am Ende wieder verschwinden. Eine Sache, die man sich nun gar nicht vorstellen kann und es auch nicht auf normale Weise bewerkstelligen könnte.
Der Verstand sammelt seiner Natur gemäß Wissen – er will immer „verstehen“ und kreiert sich damit automatisch Vorstellungen und Bedeutugen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sein Wissen tatsächlich wahr ist oder ob er nur glaubt, es wäre wahr. Wissen, das er einmal hat, gibt er nie wieder her, es sei denn, er bekommt besseres Wissen als Ersatz.
Beispiel: Stell dir vor, wir wären jetzt im Mittelalter und der allgemein Glaubensatz (= vermeintliches Wissen) lautet: Die Erde ist eine Scheibe. Würde nun ein Herr Galileo vorbeikommen und dir ausführlich die Zusammenhänge erklären und dich überzeugen können, dass die Erde eine Kugel ist, so wärest du (der Verstand) bereit, das alte Wissen loszulassen und dieses neue Wissen stattdessen anzunehmen. Doch wenn wir uns vorstellen, dass du Herrn Galileo stark angetrunken in der Dorfkneipe begegnet wärest und der nur gelallt hätte: „Die Erde ist keine Scheibe“, so würdest du diese Aussage nicht als neues Wissen annehmen und lieber dabei bleiben, dass die Erde eine Scheibe ist. Einfach mal altes Wissen (z. B.: die Erde ist eine Scheibe) zu vergessen und nur sagen zu können, „Ich weiß es nicht!“ gelingt nur dort, wo partout kein brauchbares Wissen zu erhalten ist oder die Sache für dich absolut unwichtig erscheint.
Um nun in die Realität erwachen zu können, braucht es erst einmal neues Wissen. Wissen, dass die alten Ansichten – die garantiert falsch sind (z. B. „Ich bin eine Person, die Welt ist echt usw.) – ausradiert. Das gelingt nur, wenn man dafür neues – besseres – Wissen bekommt. Anders akzeptiert der Verstand es nicht. Dieser neue Wissen ist immer noch falsch, aber zumindest kommt es der undenkbaren Wahrheit ein wenig näher. Die Suchenden machen hier naturgemäß den Fehler, dass sie dieses neue Wissen nun wieder als gültig ansehen (und ansehen müssen), und sich somit immer wieder im Kreis drehen. Das neue Wissen gleich als ebenfalls falsch zu akzeptieren, wäre der Sache auch nicht zuträglich, das das Denken sofort bei seinem gewohnten, altes Wissen bleiben wollte und bleiben würde. Eine Zwickmühle also.
Was ist dann zu tun? Nehmen wir ein Beispiel. Ich zeige dir heute eine Kugel und du wirst sie ansehen und sagen: „Das ist eine rote Kugel“. Du hast also gültiges Wissen. Morgen zeige ich dir diese Kugel wieder, doch jetzt ist sie grün. Übermorgen wird sie gelb sein, und danach ... usw. Keine deiner Aussagen (Wissen) war falsch, aber auch nicht ganz richtig. Wenn du nach diesen Tagen verstanden hast, dass du zwar zu jeder Zeit etwas über die momentane Farbe der Kugel sagen könntest, aber keine einen längerfristigen Wert hat – schließlich scheint sie ständig die Farbe zu wechseln – dann verstehst du. Du verstehst, dass es keine gültige Ausage geben kann, dennoch hast du das Wesen dieser Farbkugel erfasst.
So ist das auch hier in Bezug auf das „Erwachen in die Realität“. Du bekommst Wissen, dass dir momentan als sehr gültig erscheint. Es ist ratsam, über ein solches Wissen zu grübeln und zu brüten, damit du von deinem alten, noch falscheren Wissen und Glaubenssätzen los kommst, aber zugleich musst du verstehen, dass, wenn du es „verdaut“ hast, es wieder loslassen solltest, denn es ist nicht die absolute oder auf Dauer gültige Wahrheit. Am Ende wirst du so in die Lage versetzt, alles falsche Wissen los zu werden und das neue – im Grund ja ebenfalls noch falsche Wissen – ebenfalls über den Jordan zu werfen.
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© Hermann R. Lehner • nisarga.de